„Da kam auch eine arme Witwe und warf zwei kleine Münzen hinein. Er rief seine Jünger zu sich und sagte: Amen, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr in den Opferkasten hineingeworfen als alle anderen.“ Mk 12,42f
„Das Kreuz ist das weiseste Buch, das man lesen kann… So bitter dieses Buch ist, so ist man doch nie glücklicher, als wenn man in seine Bitterkeit untertaucht. Je mehr man in seiner Schule ist, desto mehr will man in ihr verharren… Man weiß alles, was man wissen will, man ist nie gesättigt von dem, was man verkostet…“ °Pfr. von Ars
Mit dem Herrn können wir die Selbstlosigkeit dieser armen Witwe nur bewundern, die ihren ganzen Lebensunterhalt gespendet hat. Wir können es einfach nicht nachvollziehen, wovon sie dann leben konnte.
Witwe ist das zentrale Thema in diesem Evangelium. Jesus warnt vor den Schriftgelehrten, die überall an erster Stelle sein wollen, aber die Häuser der Witwen auffressen und in ihrer Scheinheiligkeit lange Gebete verrichten. Der Herr geht unmittelbar seinem Leiden entgegen und kennt die Feindseligkeit der Schriftgelehrten, was ihn jedoch nicht daran hindert, ihnen den Spiegel ihrer Verlogenheit und Habgier vorzuwerfen.
Die Witwe ist dazu das Kontrastbild. Bewundernswert ist aber nicht nur ihre Selbstlosigkeit, sondern fast noch mehr, dass sie nicht verbittert ist. Sie gehört wohl zu den Witwen, die von den Schriftgelehrten um ihre Häuser gebracht worden sind. Aber ihre Güte kann dadurch nicht erschüttert werden.
Wie viel Unfrieden gibt es, wenn Menschen sich ungerecht behandelt fühlen, um ihr Hab und Gut gebracht werden! Diese Witwe bleibt in der Liebe! Sie ist damit ein Vorausbild für Jesus Christus selbst, den die Welt nicht haben wollte, der außerhalb der Stadt am Kreuz, also erhöht von der Erde, qualvoll sterben musste. Er, der die Liebe ist, wird abgelehnt. Auch dieser Witwe wurde wohl eine würdige, wenn auch armselige Existenz in ihrem eigenen Haus verweigert. Sie liebt weiter und wird so mit dem Herrn eins. Sie ist den Kreuzweg mit dem Herrn gegangen, noch bevor die Welt diesen Kreuzweg gesehen hat.
Der Pfarrer von Ars hat im Eintauchen in die Bitterkeit des Kreuzes das Glück gefunden, von dem man nie gesättigt ist, wenn man es verkostet. Dieser Gedanke scheint zunächst einfach unfassbar. Wie schwer sind doch Kreuze! Aber wenn wir aufhören, den Kreuzen davonzulaufen, was wir anfangs einfach geradezu reflexhaft tun, sondern in der Gnade des Herrn am Fuß des Kreuzes stehen bleiben, so können wir im Laufe der Zeit erkennen, dass der Herr bei uns ist. Wir verstehen auch dann unsere Kreuze noch nicht, aber wir können allmählich Seinen Frieden in unserem Herzen erfahren. Die Nähe des Herrn im Kreuz ist ein menschlich nicht fassbares Glück. Menschen, die mit dem Herrn ihr Kreuz tragen, können uns durch ihre Ausstrahlung des Friedens beschenken. Ohne den Heiligen Geist werden wir dies weder erfassen, noch diesen Weg gehen können. Der heilige Pfarrer von Ars hat das Glück in der Bitterkeit des Kreuzes gefunden. Er wird mit uns diesen Weg gehen, gerade dann, wenn er menschlich unerträglich ist.
9.10.2024 ih
° Aus: Jean-Marie Vianney Pfarrer von Ars, hrsg. Bernard Nodet, 1959, S.216