„Der Vater antwortete ihm: Mein Kind, du bist immer bei mir und alles, was mein ist, ist auch dein.“ Lk 15,31
„Der liebe Gott kann nicht umhin, Mitleid zu empfinden, wenn er den Hochmut seines Geschöpfes sieht.“° Pfr. von Ars
Neigt sich unsere Sympathie nicht zunächst einmal dem älteren Sohn zu, der ununterbrochen arbeitet, die Gebote hält und eigentlich die Freude seines Vaters sein müsste? Eltern sind auch heute nicht begeistert, wenn eines ihrer Kinder den Weg des jüngeren Sohnes geht, liederlich lebt und Vermögen verschleudert.
Aber offenbart diese Sympathie für den älteren Sohn nicht auch viel von uns selbst?
Schauen wir nicht doch mit einer gewissen Verachtung auf andere, deren Leben selbstverschuldet gescheitert ist, auch wenn wir dies vor uns selbst nicht zugeben?
Der Pfarrer von Ars erkennt diese Haltung klar als Hochmut: ich bin doch besser als der andere und müsste daher auch besser behandelt werden – vom Nächsten und noch viel mehr vom himmlischen Vater.
Der Vater aber offenbart immer jedem gegenüber Seine Barmherzigkeit, die menschliches Denken weit übersteigt.
Den jüngeren Sohn nimmt er in Seine Arme, schenkt ihm das beste Gewand, steckt ihm einen Ring an seine Hand, gibt ihm Sandalen an die Füße und lässt ein Mastkalb zur Feier seiner Rückkehr schlachten.
Dem älteren Sohn macht Er bewusst, dass ihm alles gehört, nicht nur einiges, wie jetzt dem jüngeren Sohn. „Mein Kind, du bist immer bei mir!“ Was könnte der Vater Größeres und Schöneres schenken als Seine ständige Gegenwart? Und der ältere Sohn ist blind für diese Gabe.
Übersehen auch wir nicht oftmals die Gnaden und Gaben, die der Vater uns völlig unverdient ständig schenkt und vergleichen wir uns nicht doch immer wieder im Stillen mit anderen, die scheinbar mehr erhalten?
Der jüngere Sohn fällt dankbar in die Arme des Vaters. Es bleibt offen, ob der ältere Sohn die Umarmung des Vaters ebenfalls annimmt. Wie steht es bei mir?
Der heilige Pfarrer von Ars trete für uns ein, damit wir auch in uns Hochmut erkennen und uns von der Liebe des Vaters besiegen lassen.
10.03.2022 ih
Aus: Jean-Marie Vianney Pfarrer von Ars, hrsg. Bernard Nodet, 1959, S. 181