15. Sonntag im Jahreskreis 10.07.2022 Lesejahr C

„Und wer ist mein Nächster?“ Lk 10, 29

„Er hatte ein reges Gefühlsleben“; unwillkürlich empfand er auch Antipathien, verbarg sie aber aus übernatürlicher Liebe. „Oft war es uns klar“,  sagt Martha Miard, „dass er sich gewissen Personen gegenüber Gewalt antun musste; gezeigt hat er es aber nie.“ °

Nächstenliebe, ein zentrales Gebot christlichen Lebens, bezieht sich in unserem Denken in erster Linie auf eine Hilfe für Menschen in Not. Dabei stehen die Armen, Kranken, Obdachlosen vor unseren Augen, denen zu helfen Christus uns verpflichtet hat. Heute wird es leider oft übersehen, wie viele Hilfsangebote auf allen Ebenen in diesem christlichen Gebot ihren Ursprung haben.

Aber ist das ausreichend? Der Nächste ist wirklich der Mensch, der unmittelbar neben mir steht, der materiell, körperlich nicht unbedingt in Not sein muss und trotzdem meine Hilfe benötigt. Es ist mein Mitmensch, der mir eventuell immer wieder auf die Nerven geht, den ich kaum ertragen kann oder aber über den ich mich nur im Vorübergehen im Alltag ärgere. Wir alle kennen diese Situationen, die uns aus dem inneren Frieden herausfallen lassen. Wir schauen dann auf unsere mangelnde Geduld und übersehen dabei die Auswirkung unseres Unfriedens auf unseren Nächsten.

Vom Pfarrer von Ars ist bekannt, dass man ihn aus seinem inneren Frieden niemals herausziehen konnte. Niemand brachte ihn dazu, Unwillen oder Ungeduld zeigen. Diese gleichbleibende Ruhe hat das Erstaunen und die Bewunderung der Pilger erregt. Aber es ist ein vorschneller Schluss, dies allein auf das Wirken der Gnade im Pfarrer von Ars zurückzuführen. Er musste für diesen Frieden viele innere Kämpfe führen, wie uns Menschen aus seiner unmittelbaren Nähe berichten.

Catherine Lassagne bezeugt das Ereignis, das am Anfang ein Mann aus Ars zu ihm kam und ihn mit Beschimpfungen überhäufte. Der Pfarrer hörte ihn  wortlos an und wollte ihn sogar aus Höflichkeit noch hinausbegleiten und vor der Verabschiedung umarmen. Diese Überwindung nahm ihn jedoch derartig mit, dass er nur mit großer Mühe ins Zimmer zurückfand und sich ins Bett legen musste. Im nächsten Augenblick war er von Pusteln bedeckt.°²

Auf meisten auf die Probe gestellt wurde der innere Frieden des Pfarrers durch seinen Hilfsvikar Raymond von 1845-1853, der 20 Jahre jünger war und dessen Seminarkosten Jean-Marie übernommen hatte. Dieser sah sich selbst als Pfarrer von Ars und demütigte auf jegliche Weise, selbst öffentlich, seinen Vorgesetzten, dem er ständig Anweisungen gab. Trotzdem wollte Jean-Marie Vianney sich nicht von Raymond  trennen, weil er durch ihn seine eigenen Fehler entdeckte und zuletzt seinen Hilfspriester sogar noch liebte.

Nach dem Tod des Pfarrers begann Raymond dessen Leben zu beschreiben, kam aber nie zu Ende. In den verbliebenen Bruchstücken wie auch in seinen Aussagen im Seligsprechungsprozess erkennt man seine Bewunderung und Hochachtung für  Jean Marie Vianney. Im Nachhinein tat es Raymond leid, dem Beispiel seines Pfarrers nicht gefolgt zu sein.

Das Ertragen des Nächsten ist Hilfe für die innere Heilung des Mitmenschen, dessen Verletzungen und insbesondere auch die Ursachen hierfür wir in der Regel nicht kennen. So können wir Werkzeug für das Wirken Gottes auf dem Heilsweg des Mitmenschen sein. Bitten wir den Pfarrer von Ars um seine Hilfe, denn aus eigener Kraft vermögen wird es nicht.
15.06.2022 ih

°Aus: Francis Trochu, Der Pfarrer von Ars, 2002, S.415

°² ebenda, S. 415