„Er aber schrie noch viel lauter: Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir! Jesus blieb stehen und sagte: Ruft ihn her!“ Mk 10,48f
„Zusätzlich kam es manchmal vor, dass er zum Bett entfernter Kranken eilte, die nach seinem Beistand verlangten. So brach er am Karfreitag 1837, als die Pönitenten sich in der Kirche drängten, plötzlich nach Fareins auf, wo eine sterbende Krebskranke ihn erwartete: dieses Fräulein Bernard kam… etwa vor 40 Jahren nach Ars … Er ging lange, verirrte sich und kam am Ende seiner Kräfte in der Pfarrei an, wo er beinahe Pfarrer geworden wäre. Die Bewohner beeilten sich ihn zu empfangen. Ohne zu zögern begab er sich zu der Kranken. Diese sagt ‚zum Diener Gottes, dass sie bald sterben werde. Er antwortet ihr, dass sie erst an Himmelfahrt sterben wird.‘ Er stärkte sie, bereitete sie auf den Tod vor, von dem sie jetzt wusste, wie viele Monate sie noch von ihm trennten, wies selbst ein Glas Wasser zurück und ging zu Fuß zurück noch Ars.“°
Jesus ist unterwegs mit seinen Jüngern und einer großen Menschenmenge auf der letzten Etappe von Jericho nach Jerusalem, als der blinde Bettler Bartimäus schreit: Sohn Davids, Jesus, hab Erbarmen mit mir. Auch der Befehl der Leute zu schweigen, hindert ihn nicht daran, weiter nach dem Herrn zu schreien.
Und Jesus bleibt stehen! Auch Er möchte den Weg nach Jerusalem weitergehen, lässt aber durch die Not dieses blinden Bettlers die Unterbrechung zu. Unterbrechung! Haben wir nicht alle schon einmal daran gelitten oder uns sogar geärgert, wenn wir irgendetwas Wichtiges zu erledigen hatten, dass ausgerechnet dann jemand etwas von uns wollte. Zu anderer Zeit gerne, aber doch nicht jetzt!
So handelt Jesus nicht. Er weiß, dass es für Ihn keine spätere Zeit geben wird, um dem Bettler zu helfen. Er weiß, dass Er der Einzige ist, der ihm helfen kann.
Und so wie der Herr am letzten Sonntag die Zebedäus-Söhne geduldig gefragt hat: Was soll ich für euch tun? (Mk 10,36), fragt Jesus auch jetzt: Was willst du, dass ich dir tue? Der Herr macht keinen Unterschied zwischen den ihm nahestehenden Jüngern und dem blinden Bettler, der in der Gesellschaft kein Ansehen hat. Er sieht den starken Glauben des Bartimäus, der Ihn Rabbuni nennt und so seine göttliche Autorität anerkennt. Der Herr schenkt ihm nicht nur das Licht der Augen, sondern auch die Erleuchtung des Herzens. Bartimäus macht sich sofort auf den Weg und folgt Ihm nach.
Für den Herrn war es in diesem Augenblick wichtiger, Seine Barmherzigkeit einem armen Blinden zu schenken, als seinen eigenen Weg nach Jerusalem weiter fortzusetzen. In der Bitte des Bartimäus: Sohn Davids, Jesus, hab Erbarmen mit mir! nimmt der Herr alle je im Glauben in Zukunft an Ihn gerichteten Bitten in Seinen Kreuzestod und Seine Auferstehung mithinein. In diesem Augenblick schenkt er Seine Barmherzigkeit einem einzigen, in der geistlichen Wirklichkeit jedoch über die Jahrhunderte jedem, der sich an Ihn voll Vertrauen wendet. So wird dieses kurze Gebet, das Anbetung und Bitte gleichzeitig ausdrückt, für die ganze Ostkirche von zentraler Bedeutung. In orthodoxen Klöstern wird es stundenlang gebetet.
Die Barmherzigkeit des Herrn steht an erster Stelle und wird so zu einem Gnadenfluss für alle Zeiten.
Der Pfarrer von Ars ist dem Herrn auch hier ähnlich geworden. Wir können uns vorstellen, welcher Menschenandrang am Karfreitag in Ars war. Das hindert Vianney jedoch keinesfalls daran, zu einer sterbenskranken Frau nach Fareins zu Fuß zu eilen. Das sind mit seinem Verirren mindestens 8 km, also insgesamt 16 km. Es war für ihn wichtiger, einen Menschen auf die Ewigkeit vorzubereiten, als die Beichte von vielen anderen abzunehmen, die noch länger leben, auch wenn er damit an die Grenzen seiner Kräfte kam.
Wir können uns keinesfalls den Pfarrer von Ars eins zu eins als Vorbild nehmen, weil wir dazu die Kraft und die Gnade nicht haben. Er ist ein Ausnahmegeschenk göttlicher Barmherzigkeit zu seiner Zeit und auch für heute. Aber wir können auf seine Fürsprache versuchen, im Heiligen Geistes zu unterscheiden, wann wir uns unterbrechen lassen sollten, unabhängig von der Wichtigkeit unserer eigenen Aufgaben. Es geht keinesfalls darum, an die Grenzen der Erschöpfung zu gelangen und nicht mehr weiter zu können.
Der heilige Pfarrer möge uns zeigen, wann ein Werk der Barmherzigkeit am wichtigsten ist.
25.09.2024 ih
Aus: Mgr René Fourrey, Le Curé D’Ars Authentique“2009, S. 185, übersetzt ih